Drüben

Calamity Jane
Unsere Calamity Jane geniesst root beer in der Bar des Fort Laramie.

Grenzen faszinieren mich. In meiner kleinen Lothringer Heimatstadt fingen hinter dem Gartenzaun meiner Tante gleichzeitig der Wald und Deutschland an. Dort hiess es in unserem Dialekt einfach „trivä“, drüben. Es fühlte sich unergründlich, anlockend und mysteriös an.

Grenzen können auch schmerzhaft sein. Dies haben meine beiden Grossmütter im letzten Weltkrieg bitter erlebt, weil sie nah der Frontlinie wohnten. Wie viele andere Flüchtlinge wurden meine Lothringer Oma und ihre zwei Babies in Viehzügen in Sicherheit gebracht. Monate später fand sie ihr Haus geplündert und ihren lieben Garten verheert. Meine Elsässische Oma führte ihren grossen Bauernhof alleine mit Hilfe von ihren vier jungen Kindern, während ihr Mann sich als entflohener Zwangsrekrutierter im Gemüsekeller versteckte. Als sich eine deutsche Truppe im grossen Bauernhof einquartierte, wurde es aber eng: Bei Luftalarmen suchten auch die deutschen Soldaten im Untergeschoss Schutz. Laut Familienchronik hat meine Grossmutter auf die Frage des Kapitäns über den fremden Zivilisten hochmütig geantwortet, dies sei ihr Haus und jeder arme Bursch’ könne unter ihrem Dach Zuflucht finden. Hat sie dabei ihre eigenen Grenzen überwunden, weil die Lage es verlangte, oder war diese Bravour für sie ganz normal?

An der Grenze zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen und Sprachen aufzuwachsen, hat mich geprägt und nach „Fremdem“ (neu)gierig gemacht: Was liegt drüben? Ist es dort anders als hier? Wer wäre ich drüben? Wer könnte ich drüben werden? Und was werde ich hinterlassen, wenn ich die Grenze überquere?

Solche Fragen gingen sicher den vielen Pionierinnen durch den Kopf, als sie sich „westwärts mit gerafften Röcken„* durchkämpften. Deshalb habe ich mir während unserer „kleinen Weltreise“ letzte Woche einzig gewünscht, Fort Laramie National Historic Site zu besichtigen. Etabliert in 1834, wurde der Fort zuerst nur von Pelzjägern (Trappers) und -händlern, Missionaren und Indianern frequentiert. 1836 werteten deshalb die zwei ersten weissen Frauen, zwei Missionarinnen, die von Militären eskortiert den Kontinent durchquerten, als kleine Sensation.

In dieser Hochburg der Amerikanischen frontier, des historischen, geographischen und kulturellen Grenzlandes, haben sich viele Frauenwege gekreuzt. Die restaurierten Offizier-Wohnungen bekunden das raffinierte Leben der guten Gesellschaft, während der Schauspiel-Barkeeper stolz erzählt, dass hier Calamity Jane (die Echte!) mehrfach wegen Prügelei verhaftet wurde und im überbevölkerten Gefängnis landete. Ab 1841 hielten hier Tausende von Pionnieren und Goldgräbern im Sommer an, um sich zu erholen und frische Zugtiere und Waren für den zweiten Teil ihrer Reise zu kaufen. Das Zeitfenster für ihre vier- bis fünf-monatige Reise war knapp gerechnet: Sie konnten die Ausgangspunkte bei dem Missouri River im Osten erst verlassen, wenn die Frühlingsregenschauern die Weiden unterwegs begrünt hatten, mussten aber vor dem ersten Schnee über die Sierra Nevada kommen. In Fort Laramie konzentrierten sich deshalb die Etappen während 45 Tagen im Sommer mit Spitzen von 55.000 Menschen pro Jahr in den 1850er. Auch um diese Zeit kaufte die US Army den Fort von einem Pelzhändler ab und etablierte sich dort, um die Pionniere zu schützen – was in diesen traurigen Jahren passierte, ist eine andere Geschichte… In den 1880er Jahren war der Fort zu einer kleinen Stadt gewachsen, aber die Beendigung der Transcontinental Railroad kündigte das brutale Ende der Planwagen und somit auch des Fortes an.

Für die Volkzählungsbehörden war die frontier einfach die Linie, worüber hinaus die Bevölkerungsdichte unter 2 Personen pro Quadratmeile war. Mit einer solch trockenen Definition konnten sie bedenkenlos 1890 das offizielle Ende der frontier ankündigen. Wie sie sich doch irrten! Denn sie lebt hier noch in vielen Herzen und taucht immer wieder unter neuen Namen auf. Der neueste und hoffentlich nicht der letzte davon ist wohl „Yes we can!“. Denn Grenzen kann sich jede(r) selbst setzen, um sie irgendwann zu überspringen.

Michèle

PS: Vielen Dank für dieses Buch, lieber Peter! Volltreffer!